Chance für die volle Wahrheit

Die Nationalratswahl ist geschlagen. Kein Politiker braucht Sorge zu haben, dass ihm eine unpopuläre Aussage am Wahlsonntag schaden wird. Das ist jetzt die Chance für die volle Wahrheit bei den Gesprächen über eine neue Regierung. Das heißt nicht, dass im Wahlkampf gelogen wurde, aber es wurde oft nur die halbe Wahrheit gesagt.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage, wie sieht es mit der Konkurrenzfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes – unsers Wohlstandes aus? Die halbe Wahrheit lautet: Österreich als kleines neutrales Land im Herzen Europas mit einem hervorragenden Humankapital, Betrieben mit großem Innovationspotenzial und internationalen Erfolgen (60% unseres Wohlstandes kommt von der Exportwirtschaft) ist ein hervorragender Wirtschaftsstandort. Die volle Wahrheit lautet aber: Österreich ist in den letzten drei Jahren bei der Konkurrenzfähigkeit vom 16. Platz weltweit, auf den 26. Platz zurückgefallen (IMD-Ranking 2024). Derzeit befindet sich die Wirtschaft in der längsten rezessiven Phase der Nachkriegszeit, die Arbeitslosigkeit steigt und die Betriebe beginnen zunehmend Teile ihrer Produktion ins Ausland zu verlagern. Lt. Statistik Austria hat Österreich schon in den letzten Jahren an Wohlstand verloren. Eine Kurskorrektur zu Gunsten des Wirtschaftsstandortes und eine Wachstumsstrategie haben absolute Priorität, sonst ist unser Wohlstand nicht zu halten.

Nehmen wir die heikle Frage, wie sicher unsere Pensionen sind. Die halbe Wahrheit lautet: Die staatlichen Pensionen werden immer sicher sein. Die volle Wahrheit lautet aber: Die staatlichen Pensionen werden immer sicher sein, die Frage ist nur, in welcher Höhe. Der frühe Pensionsantritt, die steigende Lebenserwartung und der Trend zur Teilzeitbeschäftigung – alle diese Entwicklungstendenzen wirken sich negativ auf das Pensionssystem aus. Der staatliche Bundeszuschuss zu den Pensionen betrug 2022 noch 23,4 Milliarden, 2027 werden es schon 35,2 Milliarden sein. Damit fließt ein Drittel aller Steuereinnahmen ins Pensionssystem. Eine neue Regierung wird hier dringend Maßnahmen setzen müssen. Vor allem geht es um eine Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters. Hier ist eine Strategie aus Gesundheitspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik und Qualifikationspolitik notwendig. Ein Jahr späterer Pensionsantritt bringt 2,7 Milliarden Euro. In dem für seine hohen Sozialstandards bekannten Schweden, liegt das Pensionsantrittsalter 3,5 Jahre höher. Bei einem Pensionsantrittsalter wie in Schweden wäre die Einsparung rund 9 Milliarden Euro.

Ferner muss durch steuerliche Anreize für Vollzeitarbeit wieder von einer Teilzeitgesellschaft zu einer Leistungsgesellschaft übergegangen werden. Notwendig ist eine Abflachung der Steuerprogression. Wer zum Beispiel von 20 auf 30 Wochenstunden aufstockt, soll auch netto 50 % mehr bekommen und nicht wie heute zwar brutto 50 % aber netto nur 32 %.

Appell an die Politik: Bitte jetzt die volle Wahrheit und dringend notwendige Reformen umsetzen.